Corona und die vier Grundorientierungen - Teil 1

Corona und die vier Grundorientierungen - Teil 1

Einleitung

Offensichtlich gibt es keine Welt außer in meiner Vorstellung. Also es gibt schon eine Welt, aber niemand kann sich sicher sein, dass die Welt, von der er redet, auch die ist, über die ein anderer redet[i].

In den Zeiten der Coronapandemie zeigt sich der Konstruktivismus ungebremst. Die Welt, wie ich sie sehe, ist eine private, individuelle Angelegenheit. Soweit der Grundgedanke des radikalen Konstruktivismus. Dabei wird Wahrheit schnell zur Erfindung eines Lügners (von Glasersfeld)[ii]. Oft frage ich mich, welche Ähnlichkeiten meine Welt mit deiner hat.

Angesichts einer Bedrohung, wie sie ein Virus darstellt, wird die Annahme, dass wir unsere Welt immer erfinden noch einmal besonders deutlich. Man kann das Virus nicht sehen wie ein vorbeifahrendes Auto. Das Virus ist nur mit technischen Mitteln sichtbar zu machen. Sein Verhalten und die Wirkung kann weitgehend nur aus Statistiken abgeleitet werden. Die Faktoren, welche die Gefährlichkeit für mich als Individuum bestimmen, sind immer noch weitgehend unbekannt. Älter zu sein ist grundsätzlich eher ungünstig. Ein Mann zu sein ebenfalls.[iii] Die Eigenschaften allerdings, welche Alter oder/und Geschlecht zum Risikofaktor werden lassen, sind auch bei 66 bekannten Vorerkrankungen[iv] leider immer noch zu wenig genau identifiziert, um nicht zu sagen, eher unbekannt.

Auch junge Menschen sterben am Virus. Je nachdem welche Vorstellung man sich vom Virus macht, verändern Menschen ihr Verhalten. Manche ziehen sich extrem in ihre vier Wände zurück, andere Glauben, dass das Virus mehr oder weniger eine Erfindung des medizinischen Establishments ist und sehen Einschränkungen als Ausdruck staatlich verordneter Unterdrückung. Augenblicklich wird deutlich, dass Menschen offensichtlich in unterschiedlichen vorgestellten Welten mit dem Virus leben.

Die Ähnlichkeit von Weltsichten erhöht sich deutlich, wenn man sich mit Menschen unterhält, die an die gleiche Theorie glauben (Erlanger Schule). In der Gesellschaft von Beratern und Psychotherapeutinnen haben sich in weiten Teilen der Welt Hunderte von Theorien ausgebreitet wie man Menschen verändert. Manche dieser Theorien sind auf Länder begrenzt, andere fast weltweit verbreitet.

Es ist gänzlich unmöglich einen Überblick über alle Theorien und Ansätze im Bereich der Psychotherapie und Beratung zu bekommen, die,  mehr oder weniger empirisch belegt,  proklamieren effektiv zu sein. Auch in der aktuellen Achtsamkeitswelle differenzieren sich unterdessen unterschiedliche Ausrichtungen und Ansätze[v] heraus, die sich von der ursprünglichen Idee weit entfernt haben.[vi]

Allerdings zeichnet sich seit mehr als 30 Jahren ab, das es eine breite Zustimmung zu einer Ordnung gibt, welche die Ansätze im Bereich Psychotherapie/Beratung vier Grundorientierungen (psychodynamisch, verhaltensorientiert, humanistisch und systemisch) zuordnet.[vii] Die meisten Neuschöpfungen therapeutischer Ansätze komponieren ihr Vorgehen dann aus unterschiedlichen Elementen dieser Grundorientierungen. Das trifft auch auf die Achtsamkeit zu. Allen vier Grundorientierungen gelingt es, bestimmte Aspekte in menschlichen Veränderungsprozessen plausibel erklärbar zu machen. Allen vier Ansätzen kann aber auch vorgeworfen werden, hin und wieder zu wenig ihre Grenzen zu sehen. Dann wird die Chance verpasst, dass eine andere Theorie eine bessere Erklärung hat.

Die nachfolgenden Überlegungen beschäftigen sich damit, ausgehend von diesen vier Grundorientierungen, einen Blick auf die Coronapandemie zu werfen. Das weite Feld der wachsenden medizinischen Kenntnisse über die Krankheit steht dabei weniger im Fokus der Überlegungen als die psychologischen Aspekte des Umgangs mit der Bedrohung oder ihrer Ausblendung.

 

Fortsetzung ab 12.03.2021

Verhaltensorientiert: Warum lernen Menschen so unterschiedlich?

 

Literaturangaben

[i] Watzlawick, Paul (1976) Wie wirklich ist die Wirklichkeit?: Wahn. Täuschung. Verstehen. München: Piper

Watzlawick, Paul (1981)(Hrsg) Die erfundene Wirklichkeit. München: Piper

 

[ii] Foerster, Heinz von (1997) Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Heidelberg: Auer (8. Aufl. mir Bernhard Pörksen)

Glasersfeld, Ernst v. (1981) Einführung in den radikalen Konstruktivismus. In Watzlawick, Paul (Hrsg) Die erfundene Wirklichkeit. München: Piper, 16-38

 

[iii] Bönt, Ralf (2021) Männer First. Frauen sind durch Corona weniger gefährdet und sollten später geimpft werden. Ein Plädoyer. Die Zeit Nr. 5, 28. Januar 2021, 9

Die Zeit (2021) Männer und Frauen: Der große Unterschied. Sie eben kürzer, sind anfälliger für viele Krankheiten, auch von Corona sind sie stärker betroffen. Woran liegt das>? Müsste man Männer besser schützen – oder ist das ein Tabu? Titelthema, Die Zeit, Nr. 8

Heinrich, Christian (2021) Die Schwäche des “starken Geschlechts“. Warum Männer früher sterben als Frauen. Neueste Daten und Vermutungen zu einer alten Frage. Die Zeit, Nr. 8 18. Feb. 2021, 46

Wiesemann, Claudia (2021) In der Falle des Patriarchats. Wie ist es möglich, in einer Pandemie gerecht und Solidarisch miteinander umzugehen? Ein Gespräch mit der Medizinethikerin. Nr. 8 18. Feb. 2021, 46

 

[iv] Joeres, Annika (2021) Neuer Wirkstoff entdeckt. Recherchen zeigen, dass mehr Menschen als angegeben ohne medizinische Hilfe mit einer Corona-Infektion zurechtkommen. Mit einfachen Mitteln könnte die Politik die Gefahr gefährlicher Verläufe weiter reduzieren – zum Beispiel, indem sie eine bessere Ernährung unterstützt. Die Zeit, Nr. 8 18. Feb. 2021, 6

 

[v] Tschacher, W. & Munt M. (2013). Das Selbst als Attraktor: das psychologische Selbst aus systemtheoretischer und achtsamkeitsbasierter Sicht. Psychotherapie in Psychiatrie, Psychotherapeutischer Medizin und Klinischer Psychologie, 18, 18-37

Kaufman, Keith A., Glass, Carol R., & Pineau, Timothy R. (2018). Mindful sport performance enhancement: Mental training for athletes and coaches. Foreword by Jon Kabat-Zinn. American Psychological Association. https://doi.org/10.1037/0000048-000

 

[vi] Kabat-Zinn, Jon (1990) Full Catastrophe living. New York: Delacorte Press (dt. Gesund durch Meditation: Das große Buch der Selbstheilung. München: Knauer 2011).

Kabat-Zinn, Jon (1982) An outpatient program in behavioral medicine for chronic pain patients based on the practice of mindfulness meditation: Theoretical considerations and preliminary results. In: General Hospital Psychiatry. 4 (1), 33–47

 

[vii] Kriz, Jürgen (2007) Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim: Beltz

Kriz, Jürgen (2011) „Humanistische Psychotherapie“ als Verfahren: Ein Plädoyer für die Übernahme eines einheitlichen Begriffs. Psychotherapeutenjournal 10 (4), 332-338.